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Wer hat die über 100-jährige Ostener Schwebefähre konstruiert?

Als Erbauer nennen über hundert Websites – laut  Google mindestens 140 – einen „Louis Pinette“, der regelmäßig als „französischer Ingenieur“ und als „Schüler des Eiffelturm-Erbauers Gustave Eiffel“ bezeichnet wird. Diese – zweifellos werbewirksame – Version ist Nonsens, wie ein Blick in die Archive verrät, die zur Zeit, ein Jahr vor dem 100-jährigen Bestehen des nationalen Baudenkmals, verstärkt genutzt werden, um die Geschichte der Fähre zu rekonstruieren.

War der „Franzose“ ein Hugenotte aus Berlin?

Verblüffendes Resultat: Einen „Louis Pinette“ hat es nie gegeben. Dutzende von vergilbten Originalschreiben sind vielmehr mit „Max Pinette“ unterschrieben, der 1908/09 als „Bauleiter“ die Montage der Schwebefähre überwacht hat. Dieser Max Pinette war offenbarh kein Franzose, sondern wahrscheinlich ein in Berlin-Charlottenburg lebender deutscher Hugenotten-Abkömmling mit französisch klingendem Namen; irgendeine Verbindung mit Eiffel ist bis zur Stunde nicht belegt. Sicher ist, dass Max Pinette die Ostener Schwebefähre weder erdacht oder gar konstruiert hat.

Eine (namentlich nicht gezeichnete) Bleistiftskizze, die mit alten Ratsprotokollen aus dem Jahre 1903 abgeheftet worden ist, deutet darauf hin, dass die Idee, in Osten statt der ursprünglich projektierten Drehbrücke eine der damals populären Schwebefähren zu bauen, im Kreise der lokalen Honoratioren entstanden ist.

Ein Neuhäuser zeichnete die ersten Blaupause

Auch eine in den Akten befindliche erste Blaupause, auf 1903 datiert, stammt nicht von Pinette (von dem in Osten damals vermutlich niemand wußte), sondern von dem Neuhäuser Wasserbauinspektor Abraham. Konstruiert worden ist die Fähre – wie man sieht: weitgehend nach Abrahams Vorstellungen – dann im MAN-Werk Gustavsburg. Der von der Gemeinde Osten per Beschluß vom 27. April 1908 als Bauleiter angeheuerte Berliner Dipl.-Ing. Max Pinette (Monatsgehalt: 350 Mark plus 100 Mark Bauzulage) hat die Montage der angelieferten Fertigteile überwacht und einige statische Änderungen durchgesetzt.

Wie ist die Legende von dem „französischen Ingenieur“ und „Eiffel-Schüler“ namens „Louis Pinette“ entstanden? Noch in der 1985 erschienenen „Chronik des Kirchspiels Osten“ von Ortsheimatpfleger R. A. Rüsch wird der Bauleiter korrekt als Berliner Ingenieur Pinette (ohne Vornamen und ohne Eiffel-Konnex) bezeichnet.

Irgendwann in den 90ern taucht plötzlich Louis auf

Der falsche „Louis“ Pinette in Verbindung mit dem Eiffelturm-Erbauer taucht erst Ende der 90er Jahre auf – unklar ist, wem das Gespenst zuerst erschien. In einer Reportage der Deutschen Presseagentur (dpa), die am 3. August 1998 u. a. in der „Rhein-Main-Presse“ abgedruckt wurde und als einzigen Gewährsmann einen Ostener Gastwirt namentlich nennt, heißt es wörtlich: „1909 konstruierte Louis Pinette, ein Schüler des berühmten Ingenieurs Alexandre Gustave Eiffel, die Schwebefähre in Osten“.

Die griffige und scheinbar schlüssige Lesart wurde in den folgenden zehn Jahren von vielen aufgegriffen und (mangels besseren Wissens) weiterverbreitet. In Presse, Funk und Fernsehen sowie im Internet, von der Website des Fährkrugs bis hin zur  Deutschen Stiftung Denkmalschutz, geistert seither der falsche Louis umher. Bis zur Stunde treibt er auch auf vielen noch nicht durchkorrigierten Archivseiten von ostemarsch.de, schwebefaehre.org oder schwebefaehre.de sein Unwesen.

Erste Zweifel waren aufgekommen, als es dem Ostener Journalisten und Schwebefähren-Anwohner Jochen Bölsche im Vorfeld des Hundertjährigen nicht gelang, irgendein Foto des vermeintlichen Eiffel-Schülers „Louis“ aufzutreiben. Internet-Recherchen nach Männern namens Pinette führten zwar auf die Spuren des  Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten und zu jüdisch-hugenottischen Familien in Berlin, aber nicht zum gesuchten Louis.

Die Ostener wollten Max Pinette lynchen

Erst eine Sichtung der Originalakten von einst brachte Aufschluß über den Ingenieur aus Berlin, der in Osten vor 100 Jahren nicht eben gut gelitten war. Nach Unfällen im Zusammenhang mit dem Bau der Schwebefähre drohten Bürger, Pinette zu lynchen. An der Einweihung des Bauwerks am 1. Oktober 1909 nahm Pinette nicht teil; er entschuldigte sich per Telegramm, er sei „leider letzten Augenblick verhindert“). Es folgte eine lange, heftige Kontroverse mit Bürgermeister W. A. Lohse über die Frage, ob Pinette nach Bauabschluß noch zur Rechnungsprüfung verpflichtet war.

Ein Phantom im Dienste des Fremdenverkehrs

Auf „Louis Pinette“, das Phantom im Dienste des Fremdenverkehrs, muß die Tourismuswerbung nun verzichten – ebenso wie auf die in den Siebzigern verbreitete Flunkerei, das Bauwerk in Osten sei „Europas einzige Schwebe-Fähre“ (in Wahrheit gab es natürlich sechs weitere).

Was bleibt? Zweifellos hat die Aussage Bestand, dass die Ostener Schwebefähre in jener Stahlfachwerkbauweise konstruiert worden ist, der Gustave Eiffel mit seinem Turm zum Weltruhm verholfen hat. Die Bezeichnung der Fähre als „Eiffelturm des Nordens“ sollte also erlaubt bleiben – Louis hin, Max her.

Ostepreisträgerin arbeitet Ostens Fährgeschichte auf

Damit sich das ominöse Phantom der Fähre nicht auch noch in die geplante Chronik zum Hundertährigen einschleicht, ist die renommierte Regionalhistorikerin und Oste-Kulturpreisträgerin Gisela Tiedemann-Wingst gebeten worden, die 65 Dienstjahre der Schwebefähre (1909 bis 1974) und deren Vorgeschichte anhand der Originalquellen neu aufzuarbeiten und von Legenden zu befreien.

Beim Stöbern in den Archiven geht ihr zur Zeit der Hemmoorer Ortsheimatpfleger Heino Grantz zur Hand. Die Chronik, herausgegeben von der Fördergesellschaft zur Erhaltung der Schwebefähre Osten-Hemmoor und vorbereitet von einem Arbeitskreis unter der Federführung des 2. Vorsitzenden Karl-Heinz Brinkmann, soll zum Jahr der Oste 2009 im Drochterser MCE-Verlag erscheinen. – Wer Informationen zum Thema Max Pinette beitragen kann (von ihm ist nicht einmal ein Foto bekannt), kann sich an die Redaktion von ostemarsch.de wenden.

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